4.2: Das Wunder der Stabilität: Warum der Körper ein Fluss und keine Maschine ist
Wenn die Metapher des Körpers als Maschine irreführend ist, welche Alternative haben wir? Die Antwort liegt in einer fundamentalen Umkehrung unserer Fragestellung, inspiriert von der modernen Biologie und der Philosophie von Iain McGilchrist.
Die eigentliche Frage ist nicht, was sich verändert
Für eine statische Maschine ist bei einem Problem die richtige Frage: "Was hat sich verändert?". Eine Schraube muss sich gelockert, ein Kabel gerissen sein. Doch Organismen sind das genaue Gegenteil von statisch; sie verändern sich ununterbrochen. Daher lautet die eigentliche, die tiefere Frage: "Wie bleibt überhaupt irgendetwas jemals gleich?".

Diese Frage mag philosophisch klingen, aber sie ist entscheidend. Denn die Realität unseres Körpers ist ein Zustand des permanenten, radikalen Wandels. Betrachten wir nur eine Zahl: In jeder einzelnen Sekunde sterben zwischen 10 und 50 Millionen Zellen in unserem Körper und werden durch neue ersetzt. Das sind bis zu 70 Milliarden Zellen pro Tag. Angesichts dieser unvorstellbaren Fluktuation ist die Stabilität unseres Körpers – die Tatsache, dass wir heute und morgen ähnlich aussehen und funktionieren – das eigentliche Wunder.
Die neue Metapher: Der Körper als Fluss
Wenn wir keine Maschine sind, was sind wir dann? Die moderne Biologie beschreibt uns als einen stabilisierten Prozess. Wir sind keine Ansammlung von festen Teilen, sondern ein ewiger Wandel innerhalb einer gleichbleibenden Form.

Die beste Metapher dafür ist ein Fluss. Ein Fluss besteht aus dem Wasser, das ständig fließt, und den Ufern, die dem Wasser seine Form geben. Man kann beides nicht voneinander trennen: Die Ufer formen den Fluss des Wassers, und das fließende Wasser erhält die Form der Ufer. Der Fluss ist dieser dynamische Prozess des Fließens innerhalb einer Form.
Und genau so sind wir. Unser Körper ist ein sich ständig verändernder Kosmos, in dem alles zusammenhängt und mit der Umwelt in Beziehung steht. Diese ganzheitliche, lebendige Sichtweise entspricht genau der Welt, wie sie von unserer rechten Gehirnhälfte wahrgenommen wird: ein lebendiges Ganzes, das mehr ist als die Summe seiner Teile.
Wir sind kein Ding, das kaputtgehen kann, sondern ein sich selbst organisierender, lebendiger Prozess. Gesundheit ist nicht die Abwesenheit von Fehlern, sondern das Ergebnis gut laufender, sich ständig anpassender Prozesse. Diese Erkenntnis verändert alles daran, wie wir Heilung verstehen und unterstützen können.
Quellen
- Iain McGilchrist: The Master and His Emissary
- Iain McGilchrist (Buch):The Matter With Things
- Schore: Affect Regulation and the Origin of the Self (APA) | Buch (1994)
- Schore/Schore: Modern Attachment Theory & Affect Regulation | Studie (2007)
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