3.1: Das unfertige Gehirn: Warum die ersten zwei Lebensjahre alles entscheiden
Um zu verstehen, warum frühe Bindungserfahrungen unser gesamtes Leben prägen, müssen wir an den Anfang zurückkehren – zu der biologischen Ausgangslage, mit der wir alle geboren werden. Es ist unglaublich wichtig zu verstehen, wie gewaltig die Entwicklung ist, die wir Menschen nach der Geburt durchmachen.
Wir werden "unfertig" geboren
Im Gegensatz zu vielen anderen Lebewesen kommen wir Menschen quasi nicht fertig entwickelt zur Welt. Unser Gehirn ist bei der Geburt noch relativ klein, damit wir überhaupt durch den Geburtskanal passen. Die eigentliche Explosion des Wachstums findet erst danach statt, in einer neuen Welt, an die wir uns anpassen müssen.

In den ersten Lebensjahren erleben wir ein riesiges Hirnwachstum. Es geht so weit, dass wir in den ersten drei Jahren teilweise zwei Millionen neue Neuronen und Neuronen-Verbindungen pro Sekunde entwickeln. Diese unglaublich schnelle Entwicklung ist dafür gemacht, dass wir uns an die unterschiedlichsten Kulturen, Landschaften und Gesellschaften anpassen können.
Die rechte Hemisphäre hat die Führung
Eine ganz wichtige Erkenntnis für die Entwicklung der ersten zwei Jahre – die Zeit, in der Kinder noch nicht sprechen können – ist, dass diese Entwicklung primär in der rechten Hemisphäre stattfindet. Es ist die nicht-sprachliche, umfassende Hemisphäre, die in dieser Phase die Führung übernimmt. Sie ist verantwortlich für die entscheidende Verknüpfung des Körpers mit dem Hirn und legt die Grundlagen für unser Nervensystem, unsere Verdauung und unsere Fähigkeit zur Regulation.

Der fundamentale Widerspruch
Hier zeigt sich ein fundamentaler Widerspruch, der die Weichen für unser gesamtes Leben stellt: Obwohl wir dieses unglaubliche neuronale Wachstum und Lernvermögen besitzen, sind wir nach der Geburt nahezu komplett hilflos und abhängig.
Genau dieser Widerspruch – das riesige Lernpotenzial auf der einen und die komplette Abhängigkeit auf der anderen Seite – macht die Bindung zu unseren Bezugspersonen so entscheidend. Die Art und Weise, wie diese frühe, vorsprachliche und rechtshemisphärische Entwicklung verläuft, legt die Blaupause für unser späteres emotionales und soziales Leben. Sie entscheidet darüber, ob wir eine stabile oder eine instabile Basis für alles Weitere entwickeln.
Quellen
- Iain McGilchrist: The Master and His Emissary
- Iain McGilchrist (Buch):The Matter With Things
- Schore: Affect Regulation and the Origin of the Self (APA) | Buch (1994)
- Schore/Schore: Modern Attachment Theory & Affect Regulation | Studie (2007)
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Glossar