10. Die acht Prinzipien des IFS-Ansatzes: Die Grundlage für Therapie und Coaching
Willkommen zum zweiten Teil der Einführung in IFS – das Internal Family System als Ansatz. In diesem Artikel möchte ich mit dir die Prinzipien des IFS-Ansatzes beleuchten, also die Prinzipien, die dem Ansatz zugrunde liegen.
Was ist eigentlich ein Prinzip?
Bevor wir in die einzelnen Prinzipien einsteigen, möchte ich kurz die Frage klären: Was ist eigentlich ein Prinzip?
Eine Definition für Prinzip ist: Eine Wahrheit oder Perspektive, die einem System des Denkens oder Handelns zugrunde liegt.
Das heißt, Prinzipien sind die Dinge, die wir entweder als wahr annehmen oder die wir als Perspektive einnehmen, und die dann unser Handeln, unser Denken – auch im Sinne von clinical reasoning, wie wir über unsere Innenwelt, die Innenwelt von anderen Menschen nachdenken – informieren.
Die Prinzipien informieren uns dabei, das heißt, an ihnen orientieren wir uns. Und damit geben sie uns den Rahmen, in dem wir uns dann frei bewegen, in dem wir dann auch kreativ denken können.
Die acht Prinzipien im Überblick
Ich habe den Versuch unternommen zu schauen: Was sind denn die Prinzipien, die dem IFS-Ansatz zugrunde liegen? Sprich: Was sind die Prinzipien, die den Schritten, die wir im letzten Artikel erarbeitet haben, die Basis geben?
Ich habe acht Prinzipien identifiziert, die ich dir nun Schritt für Schritt erklären möchte:

Prinzip 1: Leite Sessions vom Selbst aus
Prinzipien für die Grundlagenarbeit (Schritte 1 und 2):
- Prinzip 2: Alle Teile sind willkommen
- Prinzip 3: Teile sind intelligent und können interagieren
- Prinzip 4: Alle Teile haben eine positive Intention
- Prinzip 5: Teile sind nicht gleichzusetzen mit ihrer Last
Prinzipien für die tiefergehende Arbeit (Schritt 3):
- Prinzip 6: Um das System zu verändern, brauchen wir mehr Selbst und weniger Verletzlichkeit/Ladung
- Prinzip 7: Die Kraft der Heilung kommt vom Selbst
Prinzip für die Selbstführung (Schritt 4-5):
- Prinzip 8: Das Selbst kann das System führen
Das sind die acht Prinzipien, die – wenn wir sie verstehen und als Orientierung nutzen – ganz viele der expliziten Schritte, Fragen und so weiter im IFS-Ansatz erleichtern können, weil sie uns den Boden dafür bieten.

Prinzip 1: Leite Sessions vom Selbst aus
Damit kommen wir zu Prinzip Nummer 1: Leite Sessions vom Selbst aus.
Ob du mit dir selbst arbeitest, ob du mit anderen Menschen arbeitest – die grundlegende Ausrichtung im Internal Family System ist zu sagen: Kannst du, so sehr du kannst, mit deinem Selbst, deinem spirituellen Kern verbunden sein?
Warum ist das so wichtig? Es gibt mehrere Gründe:
Das Selbst ist unsere tiefste Ressource
Erstens: Das Selbst ist unsere tiefste Ressource. Im Selbst, oder wenn wir mit unserem Selbst verbunden sind, haben wir ganz andere Möglichkeiten, Perspektiven und vor allen Dingen eine Präsenz, von der aus manche Dinge von ganz alleine und ganz automatisch anders laufen.
- Teile interagieren anders mit uns
- Menschen vertrauen uns anders
- Und so weiter
Das heißt, das Selbst als die tiefste Ressource ist die Basis für Behandlung.
Wir eröffnen ein Selbstfeld
Indem wir im Selbst sind, eröffnen wir auch in Sessions ein Feld des Selbst. Das heißt, wir ermöglichen Menschen dann, in dem Raum, in dem wir dieses Selbst verkörpern und sein können, auch leichter Zugang zu ihrem eigenen Selbst zu finden.
Teile entspannen sich
Und wenn das der Fall ist – wenn wir in einem Selbstfeld sind, wenn wir Zugang zu unseren tiefsten Ressourcen haben und Menschen, die mit uns arbeiten (manchmal sind wir selbst das), auch im Selbst sind – dann entspannen Teile sich oft auf eine ganz besondere Art und Weise, und die innere Arbeit, die innere Forschungsreise kann viel leichter vor sich gehen.

Prinzip 2: Alle Teile sind willkommen
Dies bringt uns dann auch zu Prinzip Nummer zwei: Alle Teile sind willkommen.
Dieser Satz "Alle Teile sind willkommen" ist wahrscheinlich einer der ersten Sätze, den jeder, der jemals einen Kurs, ein Buch, ein Video zu IFS gesehen hat, gehört hat.
Alle Teile sind willkommen – das ist die absolute Grundhaltung in einem Rahmen, wo wir mit Teilen arbeiten, wo wir mit Teilen kommunizieren.
Warum sind alle Teile willkommen?
Die grundlegende Perspektive dabei ist: Alle Teile sind willkommen, denn es gibt keine schlechten Teile. Es gibt keine Teile, die etwas Böses wollen.
Teile tun zwar Dinge, die nicht nur hilfreich sind, aber sie versuchen dies immer für das Gute im System.
Die Praxis dieser Haltung
Indem wir sie willkommen heißen, anerkennen und dann erforschen, warum Teile auch in Sessions aufkommen können, können wir das herausfinden.
Diese Grundhaltung zu sagen "Alle Teile sind willkommen" – die eigentlich die ganz natürliche Grundhaltung ist, wenn wir mit unserem Selbst verbunden sind – bietet uns die Möglichkeit, auch in einer Session ganz offen, wertschätzend, mitfühlend mit allem zu sein, was in Menschen geschieht.
Und wenn Teile sich wirklich willkommen fühlen, dann ist auch die Möglichkeit, dass wir entschmelzen, dass wir Abstand von ihnen gewinnen, viel größer, als wenn wir von Anfang an versuchen, sie loszuwerden.

Prinzip 3: Teile sind intelligent und können interagieren
Wenn wir Teile dann willkommen heißen, greift Prinzip Nummer drei, welches die Grundhaltung ist: Teile sind intelligent und du kannst mit ihnen kommunizieren.
Teile sind nicht nur Automatismen
Das heißt, Teile sind nicht einfach nur automatische Angewohnheiten und Automatismen, die sich ohne gute Gründe entwickelt haben. Nein, die Perspektive ist: Teile sind schlau.
- Die haben Gründe für die Art und Weise, wie sie handeln
- Die Strategien, die sie entwickelt haben, waren zu einem Zeitpunkt, zu einer Zeit oft die mit Abstand schlausten Strategien, die es hätte geben können
- Sie haben diese Strategien entwickelt
Wir können mit Teilen kommunizieren
Wir können mit Teilen kommunizieren, indem wir ihnen Fragen stellen, und Teile teilen mit uns Informationen.
Wenn wir ihnen die richtigen Fragen stellen:
- Erzählen sie uns, warum sie Dinge machen
- Sie erzählen uns, was sie brauchen, damit sich Dinge verändern können
- Und so weiter
Das müssen wir nicht versuchen, in unserem Hirn irgendwie zu klären, sondern wir können mit ihnen kommunizieren.
Teile wissen oft mehr als wir
Ein weiterer Punkt zu diesem "Teile sind intelligent" ist, dass Teile oft Dinge wissen, die wir gar nicht unbedingt wissen können:
- Teile haben bestimmte Erinnerungen, die vielleicht für uns vollkommen vergessen sind
- Teile wissen, dass es andere Teile gibt, die gefährlich werden könnten, wenn sie aufhören, etwas zu tun
- Und so weiter
Das heißt: Teile sind willkommen, und wir betrachten sie als intelligent, interagieren mit ihnen und können so ganz viel über das System lernen.

Prinzip 4: Alle Teile haben eine positive Intention
(Diese Aufzeichnung ist verloren gegangen, so dass ich nicht weiß, wie ich es damals beschrieben hätte.)

Prinzip 5: Teile sind nicht gleichzusetzen mit ihrer Last
Wenn wir dann mit Teilen interagieren, wenn wir Teilen Fragen stellen und so weiter, dann ist ein weiteres Prinzip, an dem wir uns orientieren: Teile sind nicht ihre Last.
Die Gefahr der Reduktion
Ganz häufig, wenn wir auch mit Teilen kommunizieren, reden wir über:
- Das, was sie tun
- Die Ängste, die sie haben
- Die Emotionen, die sie tragen
- Und so weiter – ihre Lasten
Und es ist auch ganz wichtig, weil an den Punkten, wo wir in diese Teilearbeit einsteigen, wir häufig eben genau diese Forschung brauchen. Wir müssen erforschen: Warum machen sie das? Wie könnten wir da auch eine Veränderung reinbringen?
Eine andere Perspektive ermöglichen
Aber indem wir annehmen "Teile sind nicht ihre Last", können wir auch da ganz anders mit ihnen interagieren. Denn wir wissen:
- Sie haben eine positive Intention
- Sie haben auch eine ursprüngliche Qualität, die für unser System wahrscheinlich sehr wichtig ist, auch wenn sie gerade fehlt
- Teile wollen häufig gar nicht das tun, was sie tun, aber sie haben den Eindruck, sie müssen
Und wenn wir von dieser Perspektive herangehen, ist es viel leichter, mit Teilen zu kommunizieren, zu verhandeln und auch Veränderungen ins System zu bringen.
Zwischenfazit
Das sind die ersten fünf Prinzipien, die die absolute Grundlage bilden, auch wenn wir anfangen, mit Teilen zu arbeiten, Beschützer zu erforschen und so weiter. Es sind diese fünf Prinzipien, die uns vor allen Dingen orientieren.

Prinzip 6: Um das System zu verändern, brauchen wir mehr Selbst und weniger Verletzlichkeit
Wenn dann der Prozess weiter fortgeschritten ist und wir bereits im Kontakt mit den Verbannten, alten Emotionen, Erinnerungen und so weiter sind, dann greifen die nächsten zwei Prinzipien.
Das beginnt mit Prinzip Nummer 6: Um das System zu verändern, brauchen wir mehr Selbst und weniger Verletzlichkeit.
Die zwei Pfade der Veränderung
Das heißt, die zwei Pfade, auf denen Veränderungen, zumindest in dieser Art von Teilearbeit, funktionieren, sind:
1. Den Zugang zum Selbst erhöhen
Zu erforschen: Was braucht es, damit Menschen mehr Kontakt mit ihrem spirituellen Kern haben können?
Interessanterweise gibt es da eben im IFS Meditation, Entschmelzungspraktiken, die sehr hilfreich sein können und die gar nicht Jahre und Jahrzehnte brauchen, sondern wo Selbst schnell zugänglich gemacht werden kann.
Zu unterstützen, dass Teile wissen, dass es das Selbst gibt – das heißt, dass das Selbst als Ressource, als Wesen, als Energie mehr Raum im System einnimmt und dass mehr Teile des Systems wissen: "Das gibt es, und das Selbst kann mit Situationen umgehen, die gerade herausfordernd sind."
2. Weniger Verletzlichkeit
Beschützer glauben und wissen zu einem gewissen Grad, dass sie ihren Job machen, weil so viel Verletzlichkeit im System ist – weil die Alternative, dass wenn sie es nicht tun und die Verbannten an die Oberfläche kommen, überfordernd, viel zu viel für das System wäre. Und deswegen machen sie immer weiter.
Sobald aber Verbannte entlastet sind – und es muss gar nicht komplett sein, sondern sobald Teile der Emotionen, der energetischen Ladung, aber auch der somatischen Ladung abgebaut ist – können Beschützer ganz anders mit Situationen und auch mit den Verbannten umgehen.
Ein faszinierender Aspekt
Zusätzlich, und das ist für mich einer der faszinierendsten Teile, kann es teilweise sogar sein, dass es gar nicht darum geht, dass die Verbannten Veränderungen brauchen, dass bestimmte Verbannte entlastet sein müssen und so weiter.
Sondern dass alleine:
- Die Möglichkeit, mit einem Verbannten Kontakt zu sein, ohne komplett überfordert zu werden
- Allein die Präsenz des Selbst mit einem Verbannten
- Und die Erkenntnis "Krass, damals war das vollkommen überfordernd, jetzt ist es das nicht mehr"
Dass diese Veränderung, wenn die Ladung um die Verbannten sich verringert, wenn diese mehr anerkannt und mehr ins System integriert sind, die gesamte Statik im System verändern kann.

Prinzip 7: Die Kraft der Heilung kommt vom Selbst
Um diese Veränderung, diesen Zugang zum Selbst, aber auch die Verringerung der Verletzlichkeit zu ermöglichen, ist die Grundhaltung im IFS Prinzip Nummer sechs (im Artikel Nummer 7): Heilung geht vom Selbst aus.
Im Englischen ist der Satz dafür "Self is the agent of healing" – das ist ins Deutsche nicht eins zu eins zu übersetzen, deswegen: Heilung geht vom Selbst aus.
Das Selbst ist ganz und unverletzt
Die Perspektive dabei ist: Das Selbst ist ganz. In jedem Menschen gibt es das Selbst, und das Selbst ist unverletzt.
Wir müssen nicht erst:
- Das Selbst heilen
- Das Selbst verändern
- Und so weiter
Sondern: Das Selbst existiert, es ist ganz, es ist unverletzt, und von dem Selbst aus kann in jedem Menschen die Heilung ausgehen.
Nicht immer sofort zugänglich
Das ist nicht in jedem Menschen unmittelbar und sofort zugänglich, aber in jedem Menschen existiert diese Möglichkeit.
Die Grundhaltung in der Praxis
Die Grundhaltung dabei ist zu sagen: Sobald Menschen Verbindung zu ihrem Selbst haben und sobald Teile Verbindung zum Selbst haben, geschieht Heilung oft wie von ganz alleine.
Und deswegen ist auch die Ausrichtung eben nicht, dass eine IFS-Therapeutin macht und sagt "Ich helfe dir", sondern dass die Unterstützung ist: Wie kann ich dich dabei unterstützen, dass du mit deinem Selbst in Verbindung bist und dann von dort aus deinen eigenen Teilen hilfst?
Ich finde, das ist eine so hilfreiche und empowernde Perspektive, und sie ist repräsentiert im Prinzip Nummer 7: Heilung geht vom Selbst aus.
Das sind dann auch schon die zwei Prinzipien für die Heilungsarbeit im IFS:
- Um das System zu verändern, brauchen wir mehr Selbst und weniger Verletzlichkeit
Die Kraft der Heilung kommt vom Selbst

Prinzip 8: Das Selbst kann das System führen
Damit kommen wir jetzt zum letzten Prinzip, und das ist so etwas wie die Basis des Vertrauens, das unserer gesamten Arbeit zugrunde liegt: Das Selbst kann das System führen.
Mehr als nur Heilung
Nicht nur, dass das Selbst die Heilung vorantreiben kann, nicht nur, dass das Selbst unverletzt ist, sondern dass vom Selbst aus Menschen wie von alleine die Möglichkeit haben, das System zu führen – ihr eigenes System zu führen und zu unterstützen.
Ein tiefes Vertrauen
Das ist ein ganz tiefes Vertrauen in die eigenen Ressourcen und Möglichkeiten, die in jedem Menschen, in jedem einzelnen Menschen – egal wie herausfordernd das Leben ist, egal wie herausfordernd das Leben war – steckt.
Der natürliche Zustand
Die grundlegende Perspektive ist: Sogar dies ist der natürliche Zustand. Selbst ist das Selbst, ist die natürliche Führung im System.
Und wenn Dinge nicht schiefgelaufen sind, dann bleibt es das auch.
Natürlich muss sich das Selbst auch entfalten, brauchen wir Entwicklung, brauchen wir Wissen und all diese Dinge. Aber wenn die Entwicklung gesund verläuft, dann ist die Führung im System, das Zentrum des Systems, das Selbst.
Die Ausrichtung der IFS-Arbeit
Und wenn das die Ausrichtung auch der IFS-Arbeit ist, dann ist das ein ganz tiefes Vertrauen, das wir jedem einzelnen Klienten, Patienten, Menschen entgegenbringen: Du hast ein Selbst, und dieses Selbst kann das System führen.

Zusammenfassung
Das waren die acht Prinzipien des IFS-Ansatzes:
- Leite Sessions vom Selbst aus – die grundlegende Ausrichtung
- Alle Teile sind willkommen – die Grundhaltung der Arbeit
- Teile sind intelligent und können interagieren – die Basis der Kommunikation
- Alle Teile haben eine positive Intention – das Verständnis für das Handeln der Teile
- Teile sind nicht gleichzusetzen mit ihrer Last – die Perspektive auf das Potenzial
- Um das System zu verändern, brauchen wir mehr Selbst und weniger Verletzlichkeit – die zwei Pfade der Transformation
- Die Kraft der Heilung kommt vom Selbst – die empowernde Grundhaltung
- Das Selbst kann das System führen – das tiefe Vertrauen in jeden Menschen
Diese Prinzipien bilden den Boden, auf dem die gesamte IFS-Arbeit steht. Sie orientieren uns in der Praxis und geben uns den Rahmen, in dem wir kreativ und flexibel arbeiten können, während wir gleichzeitig den Kernwerten und der Grundhaltung des IFS-Ansatzes treu bleiben.
Quellen
- Richard Schwartz: Internal Family Systems Therapy, Second Edition
- Jay Earley: Freedom from Your Inner Critic
- Jay Earley: Self-Therapy A Step-By-Step Guide to Creating Inner Wholeness Using Ifs, a New, Cutting-Edge Therapy
- Wikipedia:Internal Family Systems Model
- APA (Definition): Internal Family Systems Therapy
Links zu verwandten Artikeln
- 1. Das Internal Family Systems Modell: Eine Einführung in die IFS-Therapie
- 6. Das Selbst im IFS: Die revolutionäre Entdeckung
- 15. Selbstähnliche Teile im IFS: Erkennen und Verstehen
- 2. Teile verstehen: Die innere Landschaft erkunden
- 1.3: Wenn die Landkarte zur Falle wird: Warum Coaching die rechte Hemisphäre aktivieren muss
Glossar