9. Die fünf Ziele des IFS-Ansatzes: Eine Schritt-für-Schritt-Einführung

9. Die fünf Ziele des IFS-Ansatzes: Eine Schritt-für-Schritt-Einführung

Willkommen zu diesem Artikel über die Ziele des Internal Family Systems (IFS) Ansatzes für Therapie, Coaching und Teilearbeit. In diesem Text möchte ich dir die Ziele des IFS-Ansatzes vorstellen – und zwar auf eine besondere Weise: rückwärts.

Wichtiger Hinweis vorab: Dieser Artikel baut auf den Grundbegriffen der IFS-Theorie auf. Ich werde Begriffe wie Teile, Beschützer, Verbannte, Selbst und Selbstenergie verwenden, ohne sie hier noch einmal im Detail zu erklären. Falls diese Begriffe für dich neu sind oder du einen vertieften Einblick haben möchtest, empfehle ich dir, dich zunächst mit der grundlegenden IFS-Theorie vertraut zu machen.

Der Rahmen: Die Blackbox der IFS-Therapie

Um den Rahmen für diese Zielpräsentation zu setzen, möchte ich dich einladen, dir folgendes vorzustellen: Ein Klient kommt zu einem Therapeuten oder Coach mit Problemen. Dieser Klient kennt vielleicht noch gar nicht die Teile-Perspektive, kennt vielleicht gar nichts außer der Tatsache, dass bei ihm einiges nicht so super gut läuft.

Dann gibt es die "Blackbox" der IFS-Therapie. Das heißt, dieser Mensch erhält Unterstützung mit Hilfe der Teilearbeit, der Teile-Perspektive und so weiter. In dieser Therapie oder in diesem Coaching läuft das Ganze extrem gut – was auch immer das genau bedeutet.

Wenn diese Therapie, dieses Coaching extrem gut läuft, dann ist die Frage: Was ist denn das Ziel danach? Was ist die Hoffnung, wie sich das System, die Innenwelt, das Leben des Menschen nach dieser Teilearbeit entwickelt?

Genau das ist Ziel 5 – und hier beginnen wir unsere rückwärtige Reise durch die fünf Ziele des IFS-Ansatzes.

Ziel 5: Mehr Selbstführung und Balance im System

Das Ziel und die Hoffnung, wie Menschen nach einer Zeit der IFS-Arbeit aus diesem Setting herausgehen, ist, dass sie mehr Selbstführung und Balance in ihrem System haben.

Was bedeutet das im Groben? Es bedeutet:

  • Im System existiert weniger Ladung und Polarisierung zwischen den unterschiedlichen Anteilen
  • Einige der Verbannten sind entlastet und/oder integriert – es muss dabei gar nicht immer bis zur vollständigen Entlastung bei Verbannten kommen, aber allein dass sie mehr Teil des Systems sein können, kann oft schon eine unglaubliche Erleichterung besorgen
  • Das System ist ausgerichtet – das heißt, es sind nicht alle Anteile in ganz unterschiedliche Richtungen unterwegs, sondern es gibt ein höheres Ziel, auch vom Selbst gesetzt, und die Anteile sind damit ausgerichtet und bewegen sich in eine ähnliche, nicht immer exakt gleiche, aber grob die gleiche Richtung
  • Das Selbst mit den Qualitäten der Präsenz ist als Führung und Verhandler (negotiator) im System vorhanden

Ein ganz wichtiger Punkt dabei ist: Über die Zeit der Arbeit mit IFS haben sich bestimmte ganz persönliche Herausforderungen einfach auch ein bisschen verändert. Denn wir alle kommen zu Coaches, zu Therapeuten mit unterschiedlichen Herausforderungen, die nicht ansatzweise gleich sind. Manche sind zu nett, manche sind zu herausfordernd und so weiter. Oft ist es eine Lernerfahrung zu lernen, mit diesen Anteilen zu arbeiten und auch mit genau diesen Situationen im Leben anders umgehen zu können.

Das ist Ziel Nummer 5. Und jetzt stelle ich die Frage, die sich durch den Rest dieses Artikels ziehen wird:

Was muss denn geschehen, damit jemand mehr Selbstführung haben kann? Was muss davor geschehen?

Ziel 4: Beschützer entspannen sich und lassen ihre Rollen los

Ganz grob formuliert: Bevor wir mehr Selbstführung in unserem Leben, in unserem System haben können, müssen die Beschützer, die bis zu der Zeit immer wieder den Sitz des Bewusstseins, das Selbst, übernehmen oder mit ihm verschmelzen, sich entspannen und ein bisschen Raum geben.

Was bedeutet das konkret? Es heißt, dass Beschützer ihre Rollen gehen lassen oder sich in diesen entspannen.

Damit wir mehr Selbstführung haben, müssen Beschützer einen Schritt zur Seite gehen, Raum geben, dem Selbst vertrauen und wissen, dass ihr Job nicht mehr mit der gleichen Intensität zu leisten ist.

Das kann unterschiedlich weit gehen:

  • Beschützer können ihre Rollen ganz loslassen, ganz entlasten und somit auch ihre gesunden Qualitäten – das, was sie eigentlich immer hatten – mehr ins System bringen
  • Es kann aber auch einfach heißen, dass Beschützer zu einem gewissen Grad mehr Vertrauen in das Selbst aufgebaut haben und zu sagen: "Ich mache meinen Job immer noch, aber ich muss es nicht mehr ganz so doll machen"

All das sind kleine Schritte, die allein dazu führen, dass mehr Selbst, mehr gesunder Erwachsener im Leben, im Alltag da sein kann.

Zusammengefasst: Damit wir mehr Selbstführung im Leben, in unserer Welt haben können, müssen Beschützer sich zu einem gewissen Grad entspannen, ihre Rollen loslassen, damit mehr Selbst und Selbstenergie im Leben vorhanden sein kann.

Und dann ist die Frage: Was muss geschehen, damit Beschützer ihre Rollen loslassen oder sich entspannen können?

Ziel 3: Verbannte werden entlastet und integriert

Hier kommen wir an einen wichtigen Punkt: Damit Beschützer ihre Rollen loslassen können, sich entspannen können, ein wenig Raum geben können, müssen Verbannte zu einem gewissen Grad entlastet werden.

Das muss nicht heißen, dass wir alle Verbannten entdeckt und geheilt und all das haben müssen. Es heißt einfach, dass die Verbannten, die so viel Ladung und Verletzlichkeit im System tragen, dass diese Verletzlichkeit und diese Ladung verringert ist.

Warum ist das wichtig? Damit die Gefahr kleiner wird:

  • Die Gefahr, dass wenn ein Verbannter spürbar wird, nicht alles explodiert
  • Die Gefahr, dass wenn eine Situation nicht ideal läuft, das System nicht überfordert wird

Diese Lasten sind einfach nicht mehr so stark im System.

Das heißt auch, dass dadurch wichtige Qualitäten, wichtige Bedürfnisse, wichtige Formen der Selbstwahrnehmung – auch des Kontakts mit Menschen und uns selbst – wieder ein wenig entfaltet und ins System integriert sind.

Dabei ist ein besonderer Aspekt wichtig: Es kann auch Verbannte geben, die vielleicht nicht komplett entlastet sind, die aber trotzdem mehr ins System integriert sind, wo wir als Erwachsene besser damit umgehen können. Auch das ist Teil dieses Schritts – die positiven Qualitäten und die Anteile an sich werden besser ins System integriert.

Zusammengefasst: Für mehr Selbstführung müssen sich die Beschützer ein wenig entspannen, ihre Rollen zu einem gewissen Grad loslassen. Dafür müssen die Verbannten ein wenig ihrer Verletzlichkeit verlieren, das heißt Ladung abbauen, besser ins System integriert werden und so weiter.

Und die Frage ist: Was muss denn geschehen, damit verbannte Teile ihre Lasten loslassen können?

Ziel 2: Verbannte finden und Kontakt mit ihnen aufnehmen

Die Antwort auf diese Frage ist vielleicht etwas simplistisch, aber: Bevor wir verbannte entlasten, unterstützen, integrieren können, müssen wir sie erstmal finden und Kontakt mit ihnen aufnehmen – und das Ganze auf eine sichere und nachhaltige Art und Weise.

Um mit Verbannten Kontakt aufzubauen, brauchen wir Selbstenergie. Es ist nicht hilfreich, wenn wir von Anteilen aus – eben Beschützer-Anteilen – versuchen, Beziehungen mit den Anteilen, mit den Verbannten aufzubauen. Einfach weil das nicht hilft.

Warum nicht? Weil die meisten Beschützer-Anteile entweder:

  • Diese Anteile loswerden wollen, oder
  • Sich ganz doll um sie kümmern wollen

Das ist nicht die innere Haltung, die Energie, von der aus wir den Teilen nachhaltig helfen können.

Damit wir den Verbannten mit Selbstenergie begegnen können, müssen die Beschützer einverstanden sein und Raum geben, damit wir Kontakt mit den Verbannten aufnehmen können.

Dann ist oft ein ganz wichtiger erster Schritt, diese Teile, diese Verbannten, erstmal zu bezeugen – überhaupt erst mal mitzubekommen:

  • Was trägt dieser Teil?
  • Wie fühlt er sich?
  • Was hat er erlebt?

Und so weiter.

Also bevor wir überhaupt an den Punkt kommen zu sagen "Jetzt können wir etwas verändern, jetzt können wir hier entlasten", ist der erste Schritt, erst mal diese Teile wahrzunehmen – und das vom Selbst aus und mit dem Einverständnis der Beschützer.

Zusammengefasst: Die Hoffnung ist, dass Menschen nach der IFS-Arbeit mehr Selbstführung haben. Dafür müssen Beschützer ihre Rollen zum Teil loslassen, sich entspannen. Dafür ist es wichtig, dass die Verletzlichkeit und die Ladung im System verringert ist. Dafür müssen wir überhaupt erstmal diese Verletzlichkeit und Ladung, die Verbannten, finden und Kontakt mit ihnen aufnehmen.

Und dann ist die Frage: Was muss denn geschehen, bevor wir Kontakt und Beziehung mit Verbannten aufbauen können?

Ziel 1: Vertrauen und Beziehung zwischen Selbst und Beschützern aufbauen

Auch hier ist die Antwort auf diese Frage wahrscheinlich wieder sehr einfach: Bevor wir Kontakt mit Verbannten aufnehmen können – das Ganze sicher, von Selbstenergie aus und mit Einverständnis der Beschützer tun können – müssen wir erstmal Vertrauen oder eine Beziehung zwischen dem Selbst und Beschützern aufbauen.

Warum ist das notwendig? Damit Beschützer einwilligen, dass wir Kontakt mit der Ladung, den Emotionen und so weiter der Verbannten aufnehmen können. Und damit wir überhaupt Zugang zu diesen Bereichen finden können, müssen die Beschützer erst einmal sicher genug sein, dass:

  • Im Falle von Arbeit mit einem Therapeuten oder einem Coach: Den beiden da
  • Dem Selbst und dem anderen da
  • Vertrauen werden kann

Das heißt wiederum: Wir müssen erstmal die Beschützer finden und auch mit diesen Kontakt aufnehmen, diese erforschen, von den Beschützern entschmelzen und die Selbstenergie, die sich dann automatisch zeigt, mit den Beschützern teilen.

Dabei ist es wichtig, auch darauf zu achten, dass die Beschützer mitkriegen: Da ist jemand, da ist etwas, da ist das Selbst – das ist anders.

Basierend auf dieser Beziehung können wir von einem ganz anderen Ort in uns mit den Beschützern und dann auch an der Stelle mit dem, was hinter den Beschützern, unter den Beschützern, durch die Beschützer geschützt ist, Kontakt aufnehmen.

Aber das kann nur auf einer guten Beziehung zwischen Beschützern und Selbst funktionieren.

Für diese Beziehung braucht es:

  • Zeit
  • Wertschätzung
  • Offenheit
  • Neugierde

Und so weiter – all die unterschiedlichen Qualitäten der Selbstenergie sind genau da wichtig.

Ein entscheidender Punkt: Es geht nicht darum, möglichst schnell zu den Verbannten zu kommen, sondern erstmal diese sichere, hilfreiche Beziehung aufzubauen.

Die fünf Ziele im Überblick: Rückwärts und vorwärts

Fassen wir noch einmal rückwärts zusammen:

  1. Menschen gehen hoffentlich mit mehr Selbstführung aus der Arbeit
  2. Dafür müssen die Beschützer sich ein wenig entspannen
  3. Dafür muss die Ladung und Verletzlichkeit des Systems reduziert werden
  4. Dafür müssen wir überhaupt erstmal die Ladung, Verletzlichkeit und Verbannten finden und Kontakt aufnehmen
  5. Dafür braucht es eine gute, sichere Beziehung und Vertrauen zwischen dem Selbst und den Beschützern

Und hier wird es interessant: Wenn man diese Ziele rückwärts betrachtet, dann ist das vorwärts genau der Aufbau des IFS-Ansatzes!

Es geht erstmal darum:

  1. Mit den Beschützern zu arbeiten und eine gute Beziehung aufzubauen
  2. Basierend darauf dann zu schauen: Was schützen die denn? Können wir den Teilen, die geschützt werden, helfen?
  3. Wenn wir ihnen geholfen haben: Was passiert dann mit den Beschützern?
  4. Und wie beeinflusst das wiederum unser Leben und auch die Präsenz, die Selbstenergie, die das Selbst in unserem Leben oder in unserem Alltag hat?

Das ist vorwärts der gesamte Aufbau des IFS-Ansatzes. Und das ist genau der Aufbau, den es lohnt, in ganz praktischen Schritten zu erforschen.

Fazit

Die fünf Ziele des IFS-Ansatzes bilden eine logische Kette, die – wenn man sie von hinten nach vorne betrachtet – den praktischen Aufbau der IFS-Therapie und des Coachings erklärt. Es wird deutlich, warum wir nicht direkt zu den verletzten, verbannten Teilen gehen, sondern zunächst mit den Beschützern arbeiten müssen.

Diese Struktur ist nicht willkürlich, sondern folgt der inneren Logik des Systems selbst: Vertrauen muss aufgebaut werden, bevor tiefere Arbeit möglich ist. Beschützer müssen verstehen, dass es sicher ist, Raum zu geben, bevor sie es tun. Und all das führt letztendlich zu dem, was wir uns wünschen: einem Leben mit mehr Selbstführung, Balance und innerer Ausrichtung.