8. Selbstführung mit IFS: Das Ziel der inneren Arbeit

8. Selbstführung mit IFS: Das Ziel der inneren Arbeit

Im achten und letzten Teil dieser Einführung in die Internal Family Systems Theorie erforschen wir ein zentrales Konzept: die Selbstführung. Wir wollen verstehen: Was ist Selbstführung? Warum ist Selbstführung im Modell von IFS so wichtig? Und wie sieht eine gesunde Selbstführung aus?

Die zentrale These: Das Selbst als natürliche Führung

Im IFS gibt es eine sehr einfache These, nämlich dass das Selbst die natürliche und kompetente Führung im System ist – beziehungsweise sein sollte.

Im Englischen ist dies immer wieder ausgedrückt als: "Self is the natural leader of the system" – was im Deutschen "Selbst ist der natürliche Führer des Systems" heißen würde. Das ist keine so schöne Übersetzung, deswegen spreche ich von der Selbstführung.

Das heißt: Das Selbst hat alle Kompetenzen und Fähigkeiten, die es braucht, um unser System zu führen – um die leitende Rolle in unserem System zu übernehmen.

Wir sind motivierte Systeme

Um die Wichtigkeit der Selbstführung zu verstehen, ist es, glaube ich, gut an dem Punkt anzufangen, dass wir als Menschen motivierte Systeme sind.

Was bedeutet "motivierte Systeme"?

Motivierte Systeme heißt: Wir bewegen uns immer – ob wir es wissen oder nicht, ob wir es wollen oder nicht – auf die Dinge zu, die wir als wertvoll erachten oder die wir als Ziele auserkoren haben.

Wir tun dies, weil wir glauben, dass sie uns helfen, mehr von dem zu bekommen, was wir als wertvoll erachten – beziehungsweise was wir wollen.

Das heißt: Unser Leben ist immer und dauerhaft an genau diesen Rahmenbedingungen orientiert.

Warum das so sein muss

Auf einer Ebene kann es auch gar nicht anders sein. Denn in jeder einzelnen Sekunde deines Lebens, meines Lebens, aller unserer Leben haben wir eine nahezu unendliche Menge an Dingen, die wir tun können.

Und dann ist immer die Frage: Welche davon tun wir denn?

Da ist die ganz simple Antwort: Die, von denen wir glauben, dass sie uns unseren Zielen und Werten näher bringen – die unserer Motivation entsprechen.

Das ist erstmal das Wichtige über uns als Menschen zu verstehen.

Teile haben ihre eigenen Motivationen

Im IFS-Kontext kann man sagen: Unterschiedliche Teile haben ihre eigenen Ziele und Motivationen. Das haben wir besprochen – für die Beschützer, für die Verbannten und so weiter.

Das heißt: Teile wollen eigene und unterschiedliche Dinge.

Und je nachdem, welche Teile in uns aktiv sind, werden sie uns dazu bringen, bestimmte Dinge zu tun – und teilweise eben unterschiedliche Dinge zu tun und in unterschiedliche Richtungen zu ziehen.

Ungesunde Führung: Wenn Teile das System leiten

Diese Tatsache, dass Teile ihre eigene Motivation haben, ist auch ein Kern dessen, was eine ungesunde Führung im System ausmacht.

Die Merkmale ungesunder Führung

Wenn wir eine ungesunde Führung im System haben, wird diese besonders von Teilen geleitet. Und das führt eben häufig dazu, dass:

Wir haben unterschiedliche Teile, die uns in unterschiedliche Richtungen ziehen – in diesem Beispiel nach rechts und nach links – und die nicht integriert oder ausgerichtet sind.

Das heißt: Je nachdem, welcher Teil in uns aktiv ist, bewegen wir uns in ganz unterschiedliche Richtungen in unserem Leben.

Probleme der teilgeleiteten Führung

In einem ungesund geführten System geschieht Folgendes:

1. Teile übernehmen ständig

Die Teile übernehmen immer wieder und führen dann dazu, dass wir Dinge tun:

  • Die wir eigentlich nicht wollen
  • Die zumindest andere Teile nicht wollen
  • Oder die sogar wir auch vom Selbst aus nicht wollen

2. Teile sind polarisiert

In einem ungesund geführten System sind häufig die Teile miteinander polarisiert. Das heißt, sie wollen unterschiedliche Richtungen:

  • Der eine Teil will Sicherheit
  • Der andere Teil will gesehen werden

Und es gibt immer wieder diesen Kampf zwischen den Teilen.

3. Verstrickungen mit anderen

Wir sind häufig mit anderen Menschen sehr verstrickt, weil unsere Teile und die Teile in anderen Menschen miteinander reagieren, voneinander abhängig sind und so weiter.

Zusammenfassung: Ungesunde Führung

Zusammenfassen könnte man sagen: In einem ungesund geführten System:

  • Sind die Teile sehr hart am Arbeiten
  • Das Selbst führt nicht
  • Meistens haben wir viele Konflikte, die daraus entstehen, dass wir immer wieder in unterschiedliche Richtungen gezogen werden

Gesunde Selbstführung: Eine andere Dynamik

Das Ganze sieht in einer gesunden Selbstführung anders aus.

Die grafische Darstellung

Wir haben:

  • Die Teile, die zwar nicht 100% in die gleiche Richtung gehen, aber die eher in eine ähnliche Richtung gehen
  • Das Selbst, was selbst höhere Ziele, Werte und Ähnliches hat und auch entsprechend und ausgerichtet an diese handelt
  • Viele Teile – sowohl Beschützer als auch Verbannte – die im System besser integriert sind, wo es weniger von diesen massiven Abspaltungen gibt

Die Merkmale gesunder Selbstführung

In einem vom Selbst geführten System sind die Teile integriert und ausgerichtet.

Integriert und ausgerichtet

Ausgerichtet an höheren Werten und Zielen – das heißt an Werten und Zielen, die mehr von dem, was uns wichtig ist, von dem, was hilfreich und gesund für uns ist, in sich integrieren.

Balance zwischen den Teilen

Durch diese Integration und Ausrichtung gibt es viel mehr eine Balance zwischen den unterschiedlichen Teilen – auch zwischen den unterschiedlichen Qualitäten von Teilen.

Denn unterschiedliche Teile von uns haben ganz unterschiedliche Qualitäten:

  • Manche sind zarter
  • Manche sind kraftvoller
  • Manche sind verspielt
  • Manche sind ernsthaft

Diese sind aber dann ausbalancierter.

Teile können in ihrer natürlichen Form leben

Und damit können mehr und mehr unsere Anteile und unsere Qualitäten auch in ihrer natürlichen Form in unser Leben finden.

Das Selbst als Vermittler ist notwendig

Dafür braucht es aber das Selbst als Führung und Vermittler.

Wenn nur Teile versuchen, sich miteinander zu organisieren, dann fehlt:

  • Diese höhere Ziel
  • Diese höhere Ausrichtung
  • Jemand, etwas in unserem System, das die Teile zusammenbringen kann

Dafür braucht es das Selbst.

Warum das Selbst natürlich geeignet ist zu führen

An der Stelle könnte man sagen: Das Selbst als Führung ist eben von Natur aus, von sich aus geeignet, das System kompetent und natürlich zu leiten.

Das Selbst hat alle notwendigen Qualitäten

Das Selbst hat alle Qualitäten, die es dafür braucht – wie die 8 Cs, diese Qualitäten der Präsenz:

  • Das Selbst ist offen – allen Teilen gegenüber
  • Das Selbst ist mutig – um voranzutreiben
  • Das Selbst ist kompetent – durch diese unterschiedlichen Qualitäten der Präsenz

Was das Selbst tun kann

Durch diese Qualitäten kann das Selbst:

  • Teile sehen, hören, verstehen
  • Anerkennen, dass jeder dieser Teile wichtig ist, eine positive Intention hat, positive Qualitäten hat
  • Und gleichzeitig ausgerichtet an den höheren Zielen verhandeln: Wann ist was auch hilfreich?

Die Weisheit der Selbstführung

Das Selbst kann differenzieren:

  • Wann braucht es ein bisschen mehr Entspannung der Teile?
  • Wann braucht es auch "volle Kraft voraus" der Teile?

Teile dürfen auch übernehmen

Denn manchmal müssen die Teile – oder nicht müssen, aber manchmal ist es sehr hilfreich, wenn bestimmte Teile einfach voll übernehmen.

Das können kompetente, hilfreiche, gesunde Teile sein, die einfach bestimmte Dinge übernehmen können. Wie zum Beispiel den Kraftakt, diese ganzen Videos aufzunehmen:

  • Da ist auch Selbst-Qualität da
  • Aber da sind auch einfach Teile, die bestimmte Dinge gelernt haben, präsent
  • Die aber gerade unglaublich hilfreich sind, um dieses Projekt auf die Beine zu stellen

Selbst-ähnliche Teile

Das heißt: All diese Qualitäten sorgen dafür, dass das Selbst die Führung im System übernehmen kann – und dass Teile, selbst-ähnliche Teile (darüber sprechen wir in den zusätzlichen Videos noch), das nicht können.

Selbstführung: Das Ziel der IFS-Therapie

Deswegen kann man auch im Übergeordneten sagen: Selbstführung ist das Ziel der IFS-Therapie.

Die Hoffnung und die Ausrichtung der Therapie – oder auch des Coachings mit IFS – ist, dass Menschen über die Zeit der Therapie mehr und mehr Selbstführung erlangen können.

Das heißt: Dass ihr Selbst in ihrem Leben, im Zusammenspiel mit ihren Teilen, mehr in Führung kommen kann.

Das ist das übergeordnete Ziel.

Zusammenfassung

Selbstführung bedeutet, dass das Selbst – nicht die Teile – die natürliche Führung im System übernimmt. Als motivierte Systeme bewegen wir uns immer in Richtung unserer Ziele und Werte. Wenn Teile das System leiten, ziehen sie uns oft in unterschiedliche, widersprüchliche Richtungen.

In einem ungesund geführten System sind Teile polarisiert, arbeiten hart und schaffen Konflikte. Das Selbst führt nicht.

In einem gesund geführten, vom Selbst geleiteten System sind die Teile integriert und ausgerichtet an höheren Werten. Es gibt Balance, und die Teile können in ihrer natürlichen Form existieren.

Das Selbst ist von Natur aus geeignet zu führen, weil es alle notwendigen Qualitäten hat (die 8 Cs). Es kann Teile sehen, verstehen, anerkennen und gleichzeitig an höheren Zielen ausgerichtet bleiben. Es kann vermitteln, wann Teile Raum brauchen und wann sie auch voll übernehmen dürfen.

Selbstführung ist das übergeordnete Ziel der IFS-Therapie – dass das Selbst im Leben der Menschen mehr und mehr die Führung übernehmen kann, im harmonischen Zusammenspiel mit allen Teilen.

Abschluss der Videoserie

Damit sind wir am Ende dieser ersten Videoserie zur Einführung in die IFS-Theorie. Diese Serie hat die theoretischen Grundlagen gelegt:

  • Das Paradigma der Pluralität (wir haben viele Teile)
  • Die Arten von Teilen (Beschützer, Manager, Feuerbekämpfer, Verbannte)
  • Das Konzept der Lasten
  • Die revolutionäre Entdeckung des Selbst
  • Die 8 Cs der Selbst-Energie
  • Und nun: Selbstführung als Ziel

Diese Theorie bildet die Grundlage für die praktische Arbeit mit IFS – in der Therapie, im Coaching und in der persönlichen Entwicklung. Sie bietet uns eine nicht-pathologisierende, mitfühlende und hoffnungsvolle Perspektive auf die menschliche Psyche und auf Veränderung.

Die nächste Serie wird sich der IFS-Praxis widmen – den unterschiedlichen praktischen Schritten, Tools und der Frage, wie diese Theorie in die Praxis umgesetzt wird.