6. Das Selbst im IFS: Die revolutionäre Entdeckung

6. Das Selbst im IFS: Die revolutionäre Entdeckung

Im sechsten Teil dieser Einführung in die Internal Family Systems Theorie beleuchten wir das vielleicht wichtigste Element des gesamten Modells: das Selbst. Wir wollen verstehen: Was ist das Selbst in IFS? Wie wurde es entdeckt? Und warum ist es so wichtig für die Theorie und den therapeutischen Ansatz?

Nicht nur Teile: Die vollständige Gleichung

Bis zu diesem Zeitpunkt haben wir uns in der Video-Serie stark auf einen Faktor konzentriert: auf Teile. Wir haben die These beleuchtet, dass wir alle unterschiedliche Teile haben. Wir haben betrachtet, was für Arten von Teilen es gibt – Beschützer, Verbannte, Manager, Feuerbekämpfer – und so weiter.

Und das ist auch ein ganz wichtiger Punkt des Modells, der Theorie von Internal Family Systems. Aber es ist eben nicht alles.

Die vollständige Gleichung lautet:

  • Wir haben alle unterschiedliche Teile
  • Wir haben alle unterschiedliche Teile, die auch Probleme verursachen
  • Und wir haben alle ein Selbst

Im Modell des IFS haben wir alle ein Selbst – ein spirituelles Wesen, einen spirituellen Kern, mit dem wir uns in Sessions und auch in unserem Leben verbinden können.

IFS Selbst Selbstenergie

Was geschieht, wenn wir mit dem Selbst verbunden sind

Wenn wir mit diesem Selbst verbunden sind – in der Sprache des IFS oft auch ausgedrückt als "im Selbst sind" – dann haben wir andere Ressourcen, andere Möglichkeiten.

Dann haben wir von ganz allein:

  • Andere Perspektiven und Umgangsformen mit dem, was vor zehn Sekunden vielleicht noch ein Problem war
  • Lösungen, wo vorher keine zu finden waren
  • Einen mitfühlenderen und hilfreicheren Umgang – einfach durch die Tatsache, dass mehr Selbst und Selbst-Energie präsent ist

Das möchte ich in diesem Artikel genauer beleuchten.

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Alle wichtigen Begriffe des IFS erklärt

Einfuehrung in das IFS Modell (Internal Family System) von Lucas Forstmeyer.pdf

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Die Entdeckung des Selbst: Eine unerwartete Überraschung

Um diesen Block über das Selbst ein bisschen konkreter zu machen, möchte ich zum Einstieg ein wenig die Geschichte erläutern, wie Richard Schwartz das Selbst entdeckt hat.

Der Ausgangspunkt: Teile zur Seite bitten

Wir haben bereits darüber gesprochen, dass Schwartz mit Patienten arbeitete – mit Patienten mit starken Essstörungen und ähnlichem. Er entdeckte dabei, dass wenn er die Frage stellte "Was geschieht denn, wenn du diese Ess-Attacken oder Ähnliches hast?", sie anfingen, von Teilen zu erzählen.

Und meistens nicht nur von einem Teil, der da Probleme verursacht, sondern von mehreren Teilen und von der Reaktivität zwischen den Teilen.

Indem er dem nachging, wollte Schwartz diese unterschiedlichen Teile kennenlernen. Was teilweise problematisch war: Wenn es darum ging, den Teil kennenzulernen, der vielleicht in extremen Situationen zum Ritzen übergeht – aber jedes Mal, wenn man diesen Teil kennenlernen wollte, der Kritiker gigantisch groß wurde und damit die gesamte Innenwelt übernahm – dann war es sehr schwer, den ersten Teil kennenzulernen.

Die Technik aus der Familientherapie

Da wandte er eine Technik an, die er aus der Familientherapie übernommen hatte. Manchmal gibt es in Familien Situationen, wo Kommunikation nicht stattfinden kann, weil ein Familienmitglied die ganze Zeit, wann immer andere etwas erzählen, unterbricht, reinredet und so weiter.

In der Familientherapie bittet man diese Menschen, zur Seite zu treten – an das Ende des Raumes zu treten, vielleicht sogar den Raum zu verlassen.

Er wandte genau die gleiche Technik mit Anteilen an, indem er Teile, die gerade aktiv waren, fragte, ob sie ein wenig Raum geben können oder zur Seite treten können.

Und zu seinem Erstaunen: Wenn man mit den Teilen freundlich umging, waren viele der Teile bereit, zur Seite zu treten. So konnte man sich dann bestimmten Teilen zuwenden.

Die unerwartete Entdeckung

So nutzte er in seinen Sessions immer häufiger dieses "Teile zur Seite treten" mit der Perspektive: Kann dieser Teil zur Seite treten? Ja? Welcher Teil ist dann da?

So lernte er in Menschen unterschiedliche Teile kennen. Und häufig – und das war eine Überraschung für ihn am Anfang – kam man irgendwann an den Punkt, wo, wenn er Teile zur Seite gebeten hatte, der Moment auftauchte, wo er fragte: "Und welcher Teil ist das jetzt?"

Und Menschen sagten: "Das ist kein Teil. Das bin ich."

Das war am Anfang erstmal verwirrend. Denn damit umzugehen, dass Menschen unterschiedliche Teile haben, ist schon ein relativ großer Schritt – vor allem, wenn man das entdeckt und gemeinsam mit ihnen entwickelt. Aber wenn dann plötzlich noch die Information kommt, da gibt es so ein "Ich", was auch immer das ist, dann verändert das die Dynamik.

IFS Selbst gefunden

Keine theoretische Annahme, sondern eine Beobachtung

Es ist eben nicht etwas, womit Schwartz gestartet ist – wo er gesagt hat: "Ah, da muss bei Menschen ja natürlich ein Selbst da sein" – sondern etwas, was er entdeckt hat.

Und so, wie er das beschreibt, war in diesen Momenten, wo dann die Teile zur Seite getreten waren, es als ob darunter wie immer wieder der gleiche Mensch erscheint.

Nicht im Sinne von: Dann sind wir alle exakt gleich. Sondern in der Perspektive des: Sobald Menschen dieses Selbst entdeckten oder damit in Kontakt gekommen sind, dann waren sie ein bisschen wie gesunde Erwachsene.

Die Transformation

Menschen, die noch vorher – zwei Minuten vorher, 20 Sekunden vorher – in unglaublichen inneren Konflikten steckten, reaktiv waren und so weiter: Wenn sie mit dem Selbst in Kontakt waren, im Selbst waren, dann hatten sie plötzlich:

  • Reifere Perspektiven auf die gleichen Probleme von vorher
  • Sie konnten mitfühlend mit sich selbst, mit ihren unterschiedlichen Anteilen sein
  • Sie hatten eine ganz andere Form von Interaktionen mit diesen Teilen und auch mit anderen Menschen, die 20 Sekunden vorher nicht denkbar waren

Das war so faszinierend, dass Schwartz dieses Selbst viel weiter erforschte und auch zu einem zentralen theoretischen und praktischen Punkt der IFS-Therapie machte.

Die revolutionäre Erkenntnis

Denn er stellte fest: Wenn Menschen diesen Punkt haben – dieses Selbst, von wo aus sie ganz von selbst anders mit sich und anderen umgehen können – dann ist das etwas, was wir fördern sollten.

Der Unterschied zu anderen therapeutischen Ansätzen

In vielen anderen Strömungen, therapeutischen und Coaching-Ansätzen, ist die These: So etwas wie diese Zustände, die die Menschen hatten, wenn sie im Selbst oder mit dem Selbst verbunden waren – ruhig sein, Überblick haben, mitfühlen, mit sich und anderen umgehen – das muss man erst lernen.

Das ist das Resultat von:

  • Einer guten Bindung
  • Gesunder Entwicklung
  • Jahrelanger Arbeit
  • Therapeutischer Heilung

Die IFS-Perspektive: Jeder Mensch hat ein Selbst

Die Feststellung war eben mit diesem Selbst: Nein.

Jeder Mensch – selbst die, die unglaublich große Probleme in ihrem Leben haben, die seit Jahrzehnten in psychologischer Behandlung sind – diese Menschen haben auch ein Selbst.

Es mag sein, dass es für sie schwieriger ist, Kontakt damit zu finden. Und es mag auch sein, dass die Teile mehr und schneller übernehmen, gar keine Frage. Aber es gibt dieses Selbst.

Wo, ohne Arbeit, ohne Heilung, ohne all diese Dinge, von denen wir oft glauben, sie sind notwendig, bis wir diese Zustände erreichen können – diese Perspektiven, Umgangsformen, diese Qualitäten der Präsenz – normal sind.

Was ist das Selbst eigentlich?

Damit eröffnet sich natürlich die große Frage: Was ist das Selbst eigentlich?

Wir haben alle ein Selbst. Wenn wir damit verbunden sind, sind wir großartig. Was ist das?

IFS Selbst Sitz d Bewusstseins

Das Selbst als Sitz des Bewusstseins

Eine Perspektive darauf ist zu sagen: Das Selbst ist der Sitz des Bewusstseins in uns allen.

Wir alle haben Bewusstsein. Man könnte in unterschiedlichen spirituellen Strömungen sogar sagen: Wir alle sind Bewusstsein. Und das Selbst ist der Sitz dieses Bewusstseins.

Wir sind uns oft dieses Bewusstseins gar nicht bewusst, weil wir durchs Leben gehen und wie aus dem Sitz des Bewusstseins die Welt betrachten. Das heißt:

  • Wir nehmen die Dinge wahr, die wir sehen, fühlen, denken
  • Wir nehmen wahr, wessen wir uns bewusst sind
  • Aber wir nehmen selten das Bewusstsein an sich wahr

Und so kommt es eben auch, dass wenn Anteile aktiv oder verschmolzen sind, wir die Welt durch die Brille dieser Anteile wahrnehmen. Das ist, weshalb wir dann anfangen, automatisch so zu denken, zu fühlen und so weiter.

Die IFS-Perspektive wäre: Der Sitz dieses Bewusstseins, das ist eigentlich das Selbst. Und sobald die Anteile ein wenig zur Seite treten, kommt dieses Selbst mit seinen eigenen Qualitäten wieder zum Vorschein.

Aktiviert, verschmolzen und das Selbst

Wenn wir dies auf die Perspektive von aktivierten und verschmolzenen Teilen übertragen, dann könnte man sagen:

Aktivierte Teile

Teile sind aktiviert, wenn sie in unserem Feld, in unserer Wahrnehmung aktiv sind, aber nicht komplett unseren Sitz des Bewusstseins, unser Selbst übernehmen.

Das heißt: Sie beeinflussen uns, aber sie haben nicht komplett uns, unser Denken, Fühlen und so weiter übernommen.

Verschmolzene Teile

Verschmolzen bedeutet: Teile übernehmen den Sitz des Bewusstseins, das Selbst, wirklich wie komplett. Das heißt, sie werden damit wie eins, und es gibt diese Trennung zwischen "Oh, das ist eine Stimme, die mir etwas sagt" gar nicht mehr. Sondern: Diese Gedanken sind wie meine.

Die einfache Regel

Man kann das auch ganz simpel zusammenfassen, indem man sagt:

Wer auch immer in einem Moment den Sitz des Bewusstseins übernommen hat, damit verschmolzen ist – dieser Teil oder diese Identität ist das, was wir in diesem Moment sind oder glauben zu sein.

Das heißt:

  • Wir sehen die Welt ganz automatisch durch die Perspektive dieses Teils
  • Wir glauben, wir sind dieser Teil in dem Moment

Und wenn ein anderer Teil den Sitz des Bewusstseins übernimmt, dann glauben wir, wir sind dieser Teil. Das ist, wie wir auch zwischen Perspektiven hin und her wechseln können, und gar nicht wissen, was davon stimmt – weil die Teile es sind, die hin und her wechseln.

Wenn kein Teil übernommen hat

Sobald aber kein Teil übernommen hat, ist das Selbst im Sitz des Bewusstseins – oder es ist eben der Sitz des Bewusstseins.

Sobald kein Teil übernommen hat, sind wir mit dieser Qualität des Seins, des Bewusstseins verbunden.

Selbst versus Selbst-Energie

An dieser Stelle möchte ich noch zwei Begriffe unterscheiden, die auch im IFS-Kontext häufig benutzt und unterschieden werden: Der Unterschied zwischen dem Selbst und der Selbst-Energie.

Man kann sich das vorstellen wie eine Blume: Das Selbst ist der Kern der Blume, und die Selbst-Energie sind die Blütenblätter.

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Das Selbst

Das Selbst wird verstanden als:

  • Der Sitz des Bewusstseins
  • Das Wesen, das spirituelle Wesen, das wir sind
  • Es hat bestimmte natürliche Qualitäten der Präsenz
  • Von dort aus handeln, denken und fühlen wir dann

Das Selbst ist das Wesen. Man könnte auf einer Ebene sagen: Das Selbst ist, was oder wer wir sind.

Die Selbst-Energie

Die Selbst-Energie sind die Haltungen und Gefühle, die das Selbst natürlich Menschen und Teilen entgegenbringt – Menschen, Tieren, Teilen, der Natur und so weiter. Meistens besonders wichtig: Menschen und Teilen gegenüber.

Das heißt: Selbst-Energie können einfach bestimmte Gefühle und Zustände sein, die wir wahrnehmen, wenn das Selbst präsent ist.

Wir müssen das Selbst nicht vollständig erfassen

Wir müssen also gar nicht immer – wie zum Beispiel in kontemplativen Praktiken – das Selbst in aller Tiefe wahrnehmen.

Sondern: Wenn das Selbst präsent ist, wenn wir mit dem Selbst verbunden sind, dann werden wir bestimmte Gefühlsimpulse und Haltungen der Welt und dem Leben gegenüber haben, die auftauchen.

Und das wird die sogenannte Selbst-Energie genannt. (Mehr dazu im nächsten Video über die 8 C's der Selbst-Energie.)

Ein Paradigmenwechsel

In meiner Perspektive ist die Integration des Selbst in das Modell, in die Theorie des Internal Family Systems, ein Paradigmenwechsel.

Wenn wir alle ein Selbst haben

Wenn wir alle so etwas wie ein Selbst haben – so etwas wie ein Selbst sind – dann stellen sich ganz plötzlich neue Fragen für Coaching, Therapie und eigene Entwicklung, die sich so nicht stellen, wenn es dieses Selbst in unserem Modell nicht gibt.

Das alte Paradigma: Nur Teile

Wenn wir nur aus Teilen bestehen – und Teile entweder gesund sind oder nicht gesund – dann sind die Fragen, die sich daraus natürlicherweise ergeben:

  • Wie können wir Teilen helfen?
  • Wie können wir Teile heilen?
  • Wie können wir bessere Strategien entwickeln, um mit Situationen umzugehen?

Das neue Paradigma: Das Selbst als Ressource

Wenn es aber ein Selbst gibt, von dem aus andere Gefühle, Haltungen und so weiter natürlich sind, dann stellt sich plötzlich eine ganz andere Frage:

Wie können wir uns denn damit verbinden?

Wie können wir uns mit dem Selbst verbinden:

  • In unserem Leben
  • In Sessions, um Veränderungen möglich zu machen

Die tiefgreifende Bedeutung

Ich glaube, das ist ein ganz grundlegender Wechsel der Betrachtungsweise von:

  • Menschlicher Veränderung
  • Dem menschlichen System, in dem wir leben
  • Dem Menschsein selbst

Und ich glaube, deswegen ist es so wichtig, auch über dieses Selbst nachzudenken, es zu erforschen und auch die Auswirkungen dieser Perspektive zu betrachten auf:

  • Den Umgang mit uns selbst
  • Den Umgang mit anderen Menschen
  • Die Perspektive auf das Menschsein

Deswegen glaube ich, ist es ein Paradigmenwechsel – und den möchte ich in den nächsten Videos auch noch tiefer erforschen.

Zusammenfassung

Das Selbst ist die revolutionäre Entdeckung im IFS. Es ist nicht etwas, das wir durch Arbeit entwickeln müssen, sondern etwas, das bereits in jedem Menschen vorhanden ist – ein spirituelles Wesen, der Sitz des Bewusstseins.

Wenn Teile zur Seite treten, kommt das Selbst mit seinen natürlichen Qualitäten zum Vorschein: Ruhe, Überblick, Mitgefühl, Klarheit. Diese Qualitäten müssen nicht erlernt werden – sie sind bereits da.

Das Selbst ist dabei der Kern, während die Selbst-Energie die natürlichen Haltungen und Gefühle sind, die vom Selbst ausgehen.

Diese Perspektive verändert fundamental, wie wir Heilung und Veränderung verstehen: Es geht nicht nur darum, Teile zu heilen, sondern vor allem darum, den Zugang zum Selbst wiederherzustellen.

Quellen

Glossar