2. Was ist Projektion? Ein praktischer Leitfaden
Projektion bezeichnet den psychologischen Prozess, über den ich unbewusst das Material aus meiner Innenwelt auf die Außenwelt übertrage – und dann glaube, es dort wahrzunehmen.
Klingt kompliziert, ist es aber nicht.
Die Grundlage: Was ist Projektion?
Projektion bedeutet:
Ich habe etwas in mir, dessen bin ich mir nicht bewusst. Dieses unbewusste Material kann vieles sein – Emotionen, Glaubenssätze, Körperhaltungen. Ich bin mir dessen nicht bewusst, aber ich „sehe“ es draußen in der Welt. Ich glaube dann, dort etwas zu erkennen, was in Wahrheit in mir liegt.
Das ist die Grundlage.
Was für unbewusstes Material wird projiziert?
Was projizieren wir also? Typischerweise drei Dinge.
1. Unbewusste Emotionen
Emotionen, die ich habe, aber nicht spüre. Sie wirken, sind aber aus meinem Bewusstsein ausgeschlossen.
2. Glaubenssätze
Überzeugungen darüber, wie ich selbst, andere oder die Welt „sind“. Oft sind sie so selbstverständlich, dass ich gar nicht merke, dass ich sie habe.
3. Haltungen
Dazu gehören Stimmungen und Körperhaltungen – zum Beispiel ein innerer Kollaps. Ich merke den Kollaps nicht in mir, sondern nehme stattdessen die Welt als „langweilig“ oder „leer“ wahr.
Das ist unbewusstes Material: innere Zustände, die ich nicht als meine erkenne, sondern nach außen verschiebe.
Ein wichtiger Punkt
Es ist völlig normal, dass wir uns nicht allem in uns bewusst sind. Und es ist genauso normal, dass wir bestimmte Aspekte nach außen projizieren und dort wiederfinden.
Man kann sagen: Projektionen sind die Momente, in denen ich sage: „So bist du, so ist die Welt.“
In Wahrheit sage ich damit: „So bin ich gerade, so fühlt sich meine Innenwelt an.“
Beispiele für Projektionen
Beispiel 1: Wut projizieren
Ein klassisches Beispiel ist Wut.
Ich bin wütend – nehme das aber nicht wahr. Stattdessen projiziere ich sie nach außen.
Variante 1: Du bist wütend
Ich sage: „Du bist ja wütend! Du läufst heute schon den ganzen Tag mit so einer Fresse rum!“
Ich erkenne meine eigene Wut nicht, sondern sehe sie in dir.
Variante 2: Die Welt macht mich wütend
Oder ich sehe überall Gründe, wütend zu sein.
„Das ist dumm. Das ist falsch. Du hast das falsch gemacht.“
Ich glaube, die Welt oder andere Menschen machen mich wütend – und merke nicht, dass die Wut längst in mir war.
Das Autofahren-Beispiel
Ein Klassiker: Autofahren.
Ich habe bereits eine Grundspannung, jemand nimmt mir die Vorfahrt – und alles explodiert.
„Du Arsch! Wie kannst du nur so fahren?!“
Ich projiziere meine Wut auf den anderen. In Wahrheit war sie schon vorher da.
Das Streit-Beispiel
Im Streit läuft es ähnlich. Ich glaube: „Du hast mir Unrecht getan.“
Ich spüre vielleicht ein bisschen Wut, aber fokussiere auf das, was du gesagt hast.
Das Hin und Her entsteht, weil wir beide glauben, der andere sei verantwortlich.
Wir sehen die Ursache außen, nicht innen.
Beispiel 2: Glaubenssätze projizieren
Das Gleiche passiert mit Glaubenssätzen.
„Ich kann das nicht“
Ich trage unbewusst den Satz in mir: „Ich kann das nicht.“
Wenn mir jemand etwas vorschlägt – „Probier das doch mal“ – kommt sofort die Reaktion: „Das kann ich nicht.“
Ich sehe gar nicht, dass das aus mir kommt.
Auf andere projizieren
Noch subtiler: Ich übertrage diesen Glaubenssatz auf andere.
Wenn jemand etwas wagt, denke ich: „Das wird eh nichts.“
Nicht, weil diese Person unfähig ist – sondern weil ich meine eigene Überzeugung nach außen richte.
Ich glaube, der andere wird scheitern, weil ich in mir trage: „Ich kann das nicht.“
Beispiel 3: Angst projizieren (besonders in Sessions)
In therapeutischen oder körperorientierten Prozessen taucht das oft als Angst auf.
Wenn wir an verletzliche, zentrale Themen kommen, spüre ich Angst – merke sie aber nicht.
Dann projiziere ich sie.
Variante 1: Der Rahmen ist nicht sicher
Ich sage: „Das hier ist nicht sicher.“
Ich spüre nicht meine Angst, sondern glaube, die Situation sei wirklich unsicher.
Variante 2: Du hast Angst
Oder ich sage: „Bist du sicher, dass das für dich okay ist?“
Ich spüre meine Angst nicht, aber bin überzeugt, dass du sie hast.
Ich halte meine Emotion für deine.
Zusammenfassung
Projektion bedeutet:
Etwas in mir – Emotion, Haltung, Glaubenssatz – ist mir nicht bewusst.
Ich spüre es nicht als meins.
Ich glaube, es in der Außenwelt wahrzunehmen.
Ich projiziere es auf die Welt, auf andere Menschen oder auf Situationen.
Das kann viele Formen haben:
„Du hast das Gefühl, das ich habe.“
„Diese Überzeugung gilt hier wirklich.“
Oder: „Das Außen bestätigt, dass meine Angst oder Wut berechtigt ist.“
In Wahrheit sehe ich nur mich selbst – gespiegelt in der Welt.
Das ist Projektion.
Quellen
- APA Definition: Enmeshment
- APA Definition: Projection
- APA Definition: Transference
- Susan Andersen: Social-Cognitive Model of Transference (APA Monitor)
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